Die Anforderungen an unser Gehirn sind heute so hoch wie nie zuvor. Die Datenmengen wachsen täglich, und unser Berufs- und Privatleben ist durch die Digitalisierung komplexer und unübersichtlicher geworden. Dem Neurobiologen Martin Korte zufolge geht die Komplexität sogar schon beim Einkaufen los: „Noch 1976 hatte ein typischer Supermarkt ca. 9000 Produkte im Sortiment, [im] Jahr 2019 ist diese Zahl auf ca. 40 000 Produkte angestiegen.“1 Ein Mensch der Gegenwart verarbeitet an einem einzigen Tag so viele Informationen wie früher ein Bauer in seinem ganzen Leben, es werden 154 Milliarden Emails täglich verschickt, weit über 500 Millionen Tweets pro Tag auf der Plattform Twitter / X abgesetzt.
All diese Beispiele haben in jedem Fall eine eindrückliche Botschaft: Wir müssen lernen, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden.
Diese Herausforderung stellt sich auch in der Schule. Sie betrifft insbesondere Ihre Kinder, die neben dem Lernen oft noch mit elektronischen Medien zu tun haben. Computerspiele und Social Media stellen große Ablenkungsfaktoren dar.
Schülerinnen und Schüler müssen aber auch lernen, sich Dinge zu merken, und es wird von ihnen am Gymnasium nach einer Zeit erwartet, dass sie sich selbst organisieren und beim Lernen selbst regulieren.
Eine höchst anspruchsvolle Aufgabe! Doch mit den entsprechenden Tools, Techniken und Selbstmanagement können junge Lernende den digitalen Overkill meistern und eine positive Grundeinstellung entwickeln.
Folgende Gedanken des Neurobiologen Martin Korte und des Lernpsychologen Fabian Grolimund können beim Lernen unterstützen:
1. Lernende sollten sich ein dynamisches Selbstbild aneignen: „Die Angst vor dem Versagen ist das größte aller Hindernisse, um ein Ziel zu erreichen, denn sie sorgt dafür, dass man den ersten Schritt gar nicht erst macht.“2 Wer Neues lernen möchte, macht auch Fehler, Lernen bedeutet, Schritt für Schritt zu wachsen und sich weiterzuentwickeln. Eine gewisse Großzügigkeit mit sich selbst ist grundlegend fürs Weitermachen.
2. Korte appelliert an das Engagement der Lernenden. Diese sollen eine positive Erwartungshaltung gegenüber dem Neuen entwickeln. Dabei wirken jene Fächer besonders motivierend, die sie so interessieren, dass sie gar nicht mal so auf die Noten fixiert sind. Für diese Fächer sollten sie sich besonders engagieren.
3. Lernende sollen sich ihre persönlichen Ziele genau vorstellen. Selbstgesetzte Ziele sind ein guter Treibstoff fürs Lernen. „Je genauer Menschen dies tun, umso mehr ist das Gehirn bereit, Ablenkungen und verführerische, aber leider nur kurzfristige Belohnungen wegzuschieben.“3 Natürlich müssen die Ziele auch realistisch sein. Nur wenn wir auch die Hürden sehen, die den Zielen im Weg stehen, entwickeln wir wirklich erreichbare Ziele.
4. Lernen muss zielgerichtet sein. Stundenlanges Brüten am Schreibtisch über Hefteinträgen ist nicht die richtige Herangehensweise. Lernen beginnt sofort, in dem Moment, in dem ich mich an den Schreibtisch setze. Freilich sollte man sich so etwas wie eine Anlaufphase gönnen: das Material ordnen, seine Bleistifte spitzen ... und dann los!
5. Gibt es Schwierigkeiten, den Einstieg ins Lernen zu finden? Dies ist nicht immer leicht. Grolimund empfiehlt, den Wecker zu stellen und die Lernzeit so stark zu reduzieren, dass ein Einstieg möglich wird (10 oder 15 Minuten)! Danach merkt der Lernende vielleicht, dass er eigentlich noch weitermachen kann und eine erste Motivationshürde ist überwunden.
Auch kann der Berg an Lernstoff abschreckend sein. Hier rät Grolimund in seinen Videos, an einer Stelle, die ansprechend oder einfach erscheint, zu beginnen und das Lernen dann langsam auf andere Bereiche auszudehnen.
6. Pausen beim Lernen sind wichtig. Wieso? Das Gehirn muss zwischendurch auch die Möglichkeit haben, in einen Ruhemodus zu wechseln (engl. default mode). In diesem Modus verarbeitet das Gehirn das gerade Gelernte, „ohne gleich wieder Neues abspeichern zu wollen“4. Man sollte sich deshalb um eine Energiebalance bemühen, in der Arbeits- und Erholungsphasen sich die Waage halten. Wenn man in der Pause etwas ganz anderes macht (Plätzchen backen, turnen, mit dem Hund spazieren gehen), merkt man sich die Dinge leichter.
Nun noch ein paar Tipps für Sie als Eltern!
In folgendem Video spricht Grolimund v.a. Eltern von Grundschulkindern mit Konzentrationsschwierigkeiten an, aber die Tipps sind wertvoll in jeder Lebenslage: https://www.youtube.com/watch?v=oJwsE1GMcvI.
1. Argumentieren und diskutieren Sie bei Konflikten nicht zu viel!
Manchmal wollen Kinder einfach nicht lernen, weil sie erst einmal ein Frustrationserlebnis oder eine Enttäuschung verarbeiten müssen. Die Eltern, so Grolimund, sollten in einer solchen Situation nicht argumentieren, sondern den Gefühlen erst einmal Raum geben.
Der Rückzug der Eltern kann hier ebenfalls Wunder wirken. Tun Sie dies nicht im Streit, sondern kündigen Sie an, einer anderen Tätigkeit nachgehen zu wollen.
2. Legen Sie den Akzent auf das, was gelingt!
Führen Sie positive Gespräche: Wie ist dir das gelungen?
Negative Botschaften prägen sich viel stärker ein, sie können zum Teil des Selbstkonzeptes Ihres Kindes werden, das sich dann möglicherweise damit abfindet, kein Mathe zu können oder Konzentrationsschwierigkeiten zu haben.
Wenn Sie gelingende Momente verstärken, schaffen Sie ein positives Lernklima. Dies kann durch kleine Kommentare wie ‚Ah, du hast gerade angefangen zu arbeiten‘ oder ‚Gerade hast du sehr konzentriert gewirkt‘ geschehen. So helfen Sie Ihrem Kind dabei, herauszufinden, wie sich Konzentration anfühlt.
3. Lernen ist nicht nur eine kognitive, sondern auch eine emotionale Angelegenheit. Eine positive Einstellung zum Lernen, zu den Mitschülern, zur Lehrperson unterstützt. Stress und Angst dagegen senken die Leistungsfähigkeit unseres Arbeitsgedächtnisses. „Es geht Rechenkapazität verloren, da der Stirnlappen versucht, Stress, Angst und negative Emotionen abzuwehren.“5 Deswegen ist es wichtig, für eine positive Grundstimmung zu sorgen, ob dies nun im Unterricht geschieht oder am Arbeitstisch zu Hause.
4. Wenn Sie bei Misserfolgen verständnisvoll reagieren, ist schon viel gewonnen. Die Situation soll aber nicht im Negativen festzementiert werden. Das Problem muss ja nicht einfach so hingenommen werden, man kann trotzdem an einer Lösung arbeiten: „Es ist schwierig, du darfst enttäuscht sein. Und doch bin ich überzeugt, dass du dich durch Anstrengung verbessern kannst.“
Wenn Sie dabei realistisch in Ihren Erwartungen bleiben, kann es weitergehen.
(Christine Harzer, Beratungslehrerin DHG)
1 Korte, S. 9 2 ebd., S.22 3 ebd., S. 22 4 ebd., S. 30 5 ebd., S. 28
Quellen:
Martin Korte: Hirngeflüster. Wie wir lernen, unser Gehirn effektiv zu trainieren. München 2021
Fabian Grolimund: https://www.youtube.com/watch?v=oJwsE1GMcvI (aufgerufen am 28.11.2023) und Homepage: https://www.mit-kindern-lernen.ch/team/125-fabian-grolimund
Stefanie Rietzler, Fabian Grolimund: Clever lernen. Göttingen 2018